Anne Heinlein

Tiefenschärfe mit Anne Heinlein

Tiefenschärfe mit Anne Heinlein

Tiefenschärfe mit Anne Heinlein.

Berliner Zeitung 31.12.2022

Artikel über GEHEIMES LAND von Ulrich Seidler.

Insistent kratzt die Potsdamer Fotokünstlerin Anne Heinlein an den Schichten der militärischen Vergangenheit der DDR. Und ihre Kamera stöbert auf, was sich dort verschanzt hält. Ulrich Seidler

Ein bisschen ist es wie in dem Märchen vom Rotbart und der verbotenen Kammer. Die DDR war voll davon. Nicht nur nach außen kontrollierte der kleine Staat seine Grenzen und sperrte sich bedarfsweise ein. Auch auf dem eigenen Territorium gab es abgeschlossene Gebiete, sie nahmen sage und schreibe zwölf Prozent der Gesamtfläche ein, das ist fast ein Achtel. Die Zahl steht auf dem Vorsatzpapier von „Geheimes Land“, einem sehr besonderen Buch der Potsda- mer Fotokünstlerin Anne Heinlein.

Mit „Geheimes Land“ sind die militärischen und geheimdienstlichen Sperrge- biete gemeint: Grenzanlagen, Kasernen, Übungs-, Schieß- und Bombenabwurfplätze oder konspirativ genutzte Liegenschaften, die von der Nationalen Volksarmee, den Grenztruppen, dem Ministerium des Innern und für Staatssicherheit sowie der GSSD – der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland – okkupiert und von der Öffentlichkeit abgeriegelt waren.

Unbefugte durften diese Gebiete nicht betreten, und was die Befugten dort trieben, blieb im Dunkeln. Die eigene Welt des Militärs mit ihren brutalen Machtkonstellationen, mit Einsamkeit, Heimweh, Drill und Schikanen. Anne Heinlein hat diese Gebiete mit ihrer Großbildkamera durch- streift, Relikte gesammelt, Zeitzeugen befragt, Fotos und Berichte in der Stasiunter- lagenbehörde gefunden. Zusammen mit der Buchgestalterin Uta Oettel hat sie das Material zu einer Collage in Buchform gebunden und mit Texten der Schriftstellerin Julia Schoch und des Historikers Peter Ulrich Weiss ergänzt.

Wir besuchen Anne Heinlein in ihrer hellen Remisenwohnung in Potsdam-West. Ein schönes, bürgerliches Viertel, in das sie nach dem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig wieder zurückgefunden hat. Sie erklärt konzentriert ihre Vorgehens- und Denkweise, sie hört zu, überlegt, verbessert, assoziiert und ist auf ganz uneitle, reflektierte und staunende Weise vom Gegenstand ihrer Arbeit gefangen. Das steckt an.

Sie ist 1977 in Potsdam geboren und in einem kritischen Elternhaus mit kirchli- chem Hintergrund aufgewachsen, der Vater Ingenieur, die Mutter Lehrerin. In Potsdam gab es jede Menge Sperrgebiete, die Grenze war nicht weit, sowjetische Truppen und der KGB hatten großräumige Grundstücke mitten im Stadtgebiet abgezäunt. Anne Heinlein kann sich erinnern, wie sie als Kind daran vorbeiging und wie sie auf den Rat ihrer Eltern hin jeden Kontakt mit den Leuten aus diesen Sperrgebieten mied.

Die Angst war nicht unbegründet, die Bedrohung gegeben. Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, die lange und weit entfernt von zu Hause stationiert waren, kamen häufig vor. Wenig drang nach außen, es gab Gerüchte von gejagten und erschossenen Deserteuren. Manchmal konnte man beim Wandern Schüsse und das Klirren von Panzerketten hören. Mit dem Untergang der DDR wurden die meisten dieser Gebiete aufgegeben und verlassen, teilweise sind sie noch immer mit Munition verseucht und dürfen nicht betreten werden, sodass die Na- tur zurückkommt und von Menschen ungestört durch Betonflächen bricht, Müll über- wuchert, Gift verdaut. Es ist ein Jammer, aber nur einerseits, dass die Bilder von

Anne Heinlein in ihrem Buch „Geheimes Land“ so klein sind. Es handelt sich um analoge, schwarzweiße Großbildaufnahmen, die sie im Wald gemacht hat und die man locker auf Hausgröße aufziehen könnte. Für jedes Bild muss die Fotografin mit dem Aufbau der immerhin tragbaren Ausrüstung einigen Aufwand betreiben.

Der Blick in den Sucher, unter einem schwarzen Tuch, das das Streulicht von dem empfindlichen Filmmaterial abhält, zeigt die Welt spiegelverkehrt und kopfüber. Die Schärfenebene, das ist neben der hohen Auflösung das Besondere dieser Aufnahmetechnik, liegt nicht unbedingt wie eine vertikale Leinwand im Raum, wie wir es von unserem Auge kennen. Durch das sogenannte Tilten, also das Verschwenken der Objektivstandarte vor der Mattscheibe, verlagert sich die Schärfenebene und schiebt sich schräg in die Tiefe.

Das Auge verliert immer mehr Orientierung, je länger es nach ihr sucht. Zumal der Horizont von Stämmen verstellt ist und sich Gestrüpp und Unterholz zu einer Wand verweben, hinter der man die nächsten Wände ahnt. Die Wirklichkeit sortiert sich nicht nach der Raumtiefe, sondern die Zweige, Blätter, Ranken scheinen ihr Eigenleben zu führen, in die Schärfe hinein und aus ihr herauszuwachsen. Vorn und hinten verlieren ihre hierarchische Ordnung, die Schichten scheinen einander zu überlagern und zugleich aufzulösen, der Blick bohrt sich immer tiefer hinein, bricht durch Gestrüpp, hakt sich fest. Es verläuft sich im Wald wie Rotkäppchen.

Dennoch – jetzt kommt endlich das Andererseits – ist es ein schlagender Kunstgriff, dass diese Aufnahmen zwischen zwei knallroten Buchdeckeln klemmen und sich nichan den Seitenumbruch halten. So kann man sich, indem man umblättert, immer tiefer in den Wald hineinkämpfen. Und dann reißt die Illusion. Eine Farbaufnahme kommt zum Vorschein: eine Leiche im Wald, ein Oberkörperausschnitt mit Schussverletzung, Zahlenkarten und Maßbändern, wie man sie von der Tatortfotografie kennt. Es handelt sich um reproduzierte Aufnahmen aus dem Stasiarchiv. Weiter hinten liest man Berichte von Vorkommnissen in den Sperrgebieten: Unfälle, Selbsttötungen, Flugzeugabstürze, Liquidierung von Grenz- verletzern, Vergewaltigungen – säuberlich aufgelistet, dokumentiert und rekonstruiert und dann weggeschlossen, auf dass nie- mand davon erfahre.

Anne Heinlein gehörte zur Potsdamer Künstler- und Hausbesetzerszene, sie studierte Fotografie in der Hochschule für Buchkunst in Leipzig und befasste sich schon immer mit der Geschichte, also ganz wörtlich mit den Schichten, die sich unterhalb der Oberfläche der Gegenwart abla- gern, die sie fotografisch abbildet und zugleich durchlöchert. Sie fotografierte den Leerstand der Wende, ein Potsdamer Pionierhaus, die alten Messehallen und Pavillons in Leipzig, später dann, für ihr großes Ausstellungsprojekt „Wüstungen“, die von der Staatssicherheit geräumten Gemeinden, die das Pech hatten, zu nah an der innerdeutschen Grenze zu liegen. Noch bis in die 80er-Jahre hinein wurden Jahrhunderte alte Dörfer geschleift, ihre Bewohner zwangsumgesiedelt. Auch hier hat Anne Heinlein ihr Stativ aufgebaut.

Bei ihren Streifzügen durch die verbotenen Zonen und in Sammlungen fand Anne Heinlein Militärschrott, Patronenhülsen und Feldgeschirr und lichtete sie wie Relikte oder Beweisstücke ab. Sie drang in verlas- sene Kasernen ein und fotografierte die Wände, denen die Zeit Putz-, Farb- und Schimmelschichten aufgelegt und wieder abgekratzt hat. Auch diese Bilder strahlen etwas ab, das fast stofflich und greifbar ist.

Man rutscht leicht in esoterische Gefilde ab, wenn man von Aura spricht, schweigen wir also lieber davon. Aber dennoch wird etwas spürbar, wenn man Orte aufsucht, von denen man weiß, dass sich an ihnen etwas zugetragen hat. Die Orte aus „Geheimes Land“ scheinen verletzt und verflucht zu sein, aufgeladen mit Rätseln, mit Schmerz, mit Unglück. Und von dieser narrativen Substanz überträgt sich etwas in die Fotos und in das Buch von Anne Heinlein. Und lebt dort weiter

Anne Heinlein: Geheimes Land. Verlag Fotohof Salzburg, 2022, 128 Seiten, 30 Euro