Anne Heinlein

Geheimes Land Michael Biedowicz

Geheimes Land  Michael Biedowicz

Die schöne Rede zu meiner Arbeit Geheimes Land von Michael Biedowicz

Der Wald gehört zur festen Ausstattung der deutschen Mythologie, verewigt in Sagen und Märchen, in Prosa und Lyrik. Mit der deutschen Romantik begann eine bis heute andauernde Beschäftigung mit der WALD-Thematik und beschäftigt viele Generationen bis zum heutigen Tag. Mal ist der Wald ein Erholungsgebiet, mal ein biologischer Katalysator, eine ökonomische Ressource, und vor allem ist er eins - ein Indikator unserer Gefühle.

Anne Heinlein fügt der großen Erzählung "Die Deutschen und der Wald" ein weiteres, ein ostdeutsches Kapitel hinzu. Sie untersucht mit Ihrer Arbeit GEHEIMES LAND die Orte, oder besser gesagt, die Unorte von DDR-Hinterlassenschaften: ehemalige Truppenübungsplatze - militärisches Sperrgebiet, zu denen der Zutritt strengstens untersagt war. Dass ca.12 % der Landesfläche den Bewohnern des Landes entzogen wurde – das ist eine der erstaunlichen Erkenntnisse, die ich nach Lektüre des sehr empfehlenswerten Katalogs machen konnte.

Wir sehen hier in der Ausstellung vor allem zwei Sujets – Anne Heinleins Naturbilder – es sind Aufnahmen der besagten ehemaligen militärischen Gebiete und auf der anderen Seite, originale Fotodokumente der NVA, Staatssicherheit und der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland – es sind Archiv-Ausgrabungen, die ihre eigene Erzählstruktur haben. Mal sind es lehrbuchhafte Darstellungen vom militärischen Ernst, mal Dokumente, die Fahnenflucht, Tötung und Selbsttötung von Armeeangehörigen belegen. Ein besonderes Kapitel nehmen die Dokumente von sowjetischen Soldaten auf der Flucht ein - einer Flucht, die in vielen Fällen einem Amoklauf nicht unähnlich war. Es gab sie in großer Zahl. Alle diese, sogenannten VORKOMMNISSE, waren, na klar, total geheim und dennoch ging diese Ahnung durch das Land - als Gerücht, Legende oder mündliche Überlieferung, als Oral History im Wortsinn. Festgehalten und dokumentiert haben das andere - das war Sache der Staatssicherheit und „Angehöriger bewaffneter Organe“, die alles getan hätten, um diese Offenlegung zu vermeiden.

Anne Heinleins Landschaftsbilder sind mit einer Großformat Kamera produziert. Obwohl die fotografische Wiedergabe dabei maximal präzise ist – zeigt sich die Natur stellenweise undurchdringlich und offenbart sich nicht sofort. Unserer Sehnsucht nach Ordnung und System werden diese Darstellungen wenig gerecht. Stattdessen haben wir es mit Überwucherungen von Gestrüpp und Wildwuchs zu tun, eine Natur, die nicht kultiviert ist, und sich selbst überlassen wird - eine Metapher für ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte.

Es gibt auch Waldmotive, mit einer für das Land spezifischen Baumart, Pinus sylvestris - der „gemeinen Kiefer“. Sie ist der Charakterbaum der Mark Brandenburg schlechthin. Die Kiefer ist anspruchslos, frosthart, relativ schnellwüchsig und ihr Holz ist begehrt. Die Kiefer steht für Brandenburg und auch ein wenig für die DDR - ein relativ schmuckloser Baum, aber sehr nützlich. Schmucklos und nützlich - so wünschten sich DDR-Autoritäten auch ihre Bürger.

Das Nutzholz nutze dem Staat als Devisenquelle, so mancher Baum aus Brandenburg ist in den Westen gewandert und verwandelte sich vielleicht in ein IKEA-Möbelstück. (Ganz aktuell in diesem Zusammenhang ist die Nachricht, dass IKEA 6 Mio. Euro in einen Hilfsfond zahlt, um ehemalige DDR-Häftlinge, die zwangsweise für IKEA gearbeitet haben, zu entschädigen.)

Auch die Papierindustrie brauchte den Werkstoff Holz. Die DDR, die sich gern "Leseland" nannte, hatte einen großen Bedarf an Papier für Gedrucktes.

Nicht nur für Christa Wolf Bücher, auch jede Menge gedrucktes Propagandamaterial wurde gebraucht, um die Wirklichkeit mit geschönten Texten und Bildern zu übermalen.

Typischerweise stehen Kieferbäume in den Wäldern wie Soldaten aufgereiht - das ganze Land hatte unübersehbar, eine militärische Ausprägung. Die DDR hat das militärische Erbe der vorangegangenen Epochen nie verleugnet, weder im Design der NVA-Uniformen noch in den zahlreichen Broschüren und Bildbänden aus dem Militärverlag der DDR. Verschwunden sind weder diese DDR-Bücher noch andere DDR Memorabilia. Manches DDR-Kulturgut wurde Kult und gibt der unvermeidlichen DDR-Nostalgie Nahrung. Als ich einmal in New York einen Hipster in einer NVA-Jacke gesehen habe, dachte ich, vielleicht stimmt ja, der Hegel zugeschriebene Satz, dass Geschichte sich immer zweimal ereignet – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

Dankeswerterweise taucht Anne Heinlein mit großer, aufklärerischer Ernsthaftigkeit in die Historie ein und kämpft sich quasi durchs Unterholz der DDR-Geschichte. Sie zeigt, wie sich Natur und Geschichte überlagern – wie sich Natur diese militärisch genutzten und missbrauchten Landschaften zurückerobert, während gleichzeitig die Erinnerung an die militärische Vergangenheit allmählich verblasst.

Diese Orte, die lange Zeit nicht zugänglich waren, und auch heute noch mit Giften und Munition kontaminiert sind, öffnen durch Anne Heinleins Fotografien ein Fenster in die Vergangenheit. Damit aus dem Verblassen kein Vergessen wird, braucht es eine Wachheit der Chronistin, die Mühen der Recherche, und auf der anderen Seite auch - die Bereitschaft der Rezipienten, sich dessen überhaupt erinnern zu wollen. Erinnerung ist nicht nur ein Blick zurück, sondern immer auch ein Auftrag, dem Vergessen oder Verdrängen entgegenzuwirken.

Künstlerische Projekte können eine wichtige Rolle im Prozess des Erinnerns spielen, weil sie individuelle und kollektive Gedächtnisse ansprechen, vertiefen und transformieren. Künstler schaffen Räume, in denen Vergangenes lebendig wird, Gefühle geweckt und Perspektiven geöffnet werden. Das Erinnern wird so nicht nur ein bloßer Rückgriff auf Fakten, sondern ein intensiver und emotionaler Prozess, an dem wir Besucher hier teilhaben können.

Anne Heinlein setzt das Medium Fotografie ausgesprochen vielseitig ein - mal ist es Dokument, mal Metapher, mal ist es ein ungelöstes Rätsel. Vor allem ist es auch eins, ein ganz persönliches Statement der Künstlerin. Die Basis für die Beschäftigung mit diesem Thema sind viele Kindheitserinnerungen der Fotografin: Autofahrten durch das Land mit vielen blinden Flecken.

Hier noch einmal die unglaubliche Zahl - mehr als ein Zehntel des Landes war gesperrtes Terrain – GEHEIMES LAND. Das Geheime, verborgen in den Schichten der Erinnerung, freizulegen, diese Anstrengung zu unternehmen - ist das große, verdienstvolle Anliegen der Künstlerin Anne Heinlein.

Dafür gebührt Ihr großer Dank!

Michael Biedowicz

Foto: Anne Heinlein, Geheimes Land, Wald Krienke, 2020